Nicht einmal zur Sterbebegleitung hatte ich Zeit

Es ist kurz vor 6, ich betrete die Station. Die Kollegen des Nachtdienstes sehe ich noch schnellen Schrittes über den Flur und durch die Zimmer huschen. Links von mir höre ich, wie 2 Kollegen einen durchgängigen Patienten beruhigen, der bettflüchtig wurde. Von rechts bekomme ich mit, dass ein Patient wiederholt, frisch gemacht werden muss, weil er ins Bett abgeführt hat.

Ein weiterer Kollege läuft zwischen den Zimmern hin und her, um Informationen für die Übergabe einzuholen, damit zumindest diese irgendwie pünktlich stattfinden kann.

Die Dienste finden oft unterbesetzt statt, da die Dienste so knapp besetzt sind, dass jeder einzelne Krankheitsausfall bereits nachbesetzt werden muss. Ist vereinzelt mehr Personal da, wird es auf andere Stationen versetzt, um dort auszuhelfen. Zudem sind die Schichten oftmals besetzt mit jungen KollegInnen mit wenig Berufserfahrung oder international angeworbenen Pflegekräften mit Sprachbarrieren, welche sich um die PatientInnen kümmern können, nicht jedoch organisatorische Aufgaben übernehmen.

Meine Gruppe besteht zunächst aus einer bauchchirurgischen Patientin, die seit kurzem blutig abführt. Es ist bereits kreislaufrelevant, weshalb ihr Blutdruck mit kreislaufunterstützenden Medikamenten hochgehalten werden muss. Heute soll eine Magen- und Darmspiegelung am Bett durchgeführt werden, wozu sie noch abführen muss. Das Abführmittel hat sie noch vom Nachtdienst hingestellt bekommen. Die Situation macht ihr große Angst, sodass sie neben dem häufigen frisch machen und der Kreislaufüberwachung eigentlich auch eine enge psychische Betreuung bräuchte. Doch ich muss mir erstmal einen Überblick über meine anderen Patienten verschaffen.

Mein zweiter Patient schläft noch, er hat nach seiner Bypass-Operation einen Infekt mittig des Brustkorbs erlitten und erhält eine Vakuum-Therapie. Heute soll im OP ein Wechsel der Vakuum-Therapie stattfinden, doch ich weiß noch nicht, wann er an der Reihe ist, da diese Eingriffe meist auf Abruf durchgeführt werden. Da im Zimmer alles ruhig und seine Vitalparameter stabil aussehen, lasse ich ihn erst einmal schlafen.

Also schnell auf zu Patientin drei, eine alte, multimorbide Dame, die eigentlich für einen kardiologischen Eingriff ins Haus kam. Da stellte sich jedoch eine COVIDInfektion heraus, weshalb sie dementsprechend isoliert werden musste. Da ihr die Infektion gesundheitlich massiv zugesetzt hat, konnte der Eingriff nicht stattfinden und nach vielen Gesprächen zwischen Ärzten und Angehörigen wurde mittlerweile eine Comfort-Care Situation zur Sterbebegleitung eingeleitet. Während ich vor ihrem Zimmer stehe, um meine Isolationskleidung anzuziehen klingelt meine bauchchirurgische Patientin, weil sie sich vom Abführmittel übergeben und ins Bett abgeführt hat.

Also schaue ich vom Flur kurz ins Iso-Zimmer, ob ich von dort etwas Akutes entdecke und ziehe meinen Kittel wieder aus.

Da die anderen Kollegen ähnlich beschäftigt sind wie ich und mir gerade keiner helfen kann, muss ich die Frau unter Schmerzen und Weinen allein frisch machen und im Bett drehen. Während der Prozedur versuche ich, beruhigend auf sie zu wirken, doch im Kopf habe ich gefühlt 1000 Sachen, die ich gerade noch machen muss. Am besten gleichzeitig.

Als ich fertig bin, ist der Dienst bereits vorangeschritten und ich habe meinen letzten Patienten noch nicht gesehen. Es ist ebenfalls ein Patient nach BypassOperation, jedoch erst am 3. Tag nach Op. Ich schaue kurz vorbei, checke die Punkte der Antrittskontrolle, frage schnell, ob alles okay ist, wobei ich insgeheim hoffe, dass er gerade nichts weiter braucht. Er hat Schmerzen beim Atmen, also gehe ich los, um den Kollegen mit Schlüssel für die Opiatezu suchen, schließe eben eins dieser aus, ziehe es auf und dokumentiere es. Dann gehe ich zurück zum Patienten und verabreiche ihm eine Dosis, erkläre noch schnell im Rausgehen, dass ihm vom Medikament etwas schummrig werden könne, dass das aber normal ist und er sich später melden solle, falls er wieder Schmerzen hat.

Mehr Zeit habe ich dafür gerade auch nicht, denn ich muss ja auch noch waschen gehen. Und die Patientin in der Comfort-Care lagern, Medikamente geben und schauen, ob sie Schmerzen hat oder vielleicht abgesaugt werden muss. Eigentlich würde ich ihr auch gerne einfach etwas Beistand leisten, denn sie ist allein in ihrer Situation und sicher hat sie Angst. Niemand möchte doch so allein dort liegen. Aber ich habe keine Zeit. Mache also nur das nötigste was ich gerade allein schaffe, denn die erste Patientin klingelt wieder.

Als ich aus dem Isolationszimmer raus auf den Flur schaue, ob jemand der anderen mir noch schnell ein frisches Hemd geben oder zumindest auf die Klingel gehen kann sehe ich erstmal niemanden, denn alle sind an den Patienten beschäftigt.

Also lege ich ein Handtuch auf den Fleck, sage der Patientin, dass ich möglichst bald wiederkomme und gehe.

Im weiteren Verlauf ist es ein ständiges hin und her im Laufschritt. Nirgendwo habe ich richtig Zeit, auf keinen Patienten kann ich richtig eingehen.

Mein Arbeitsablauf besteht aus: Wahrnehmen – in Prioritäten kategorisieren – Priorität Nummer 1 abarbeiten – evaluieren. Und so weiter. Umfassende Pflege ist da schon lange nicht mehr möglich.

Die Magen- und Darmspiegelung war frustrierend, da die Patientin allein die Abführmaßnahmen nicht richtig durchführen konnte. Sie hat sehr viel geweint und sich häufig Übergeben. Häufig musste sie im Erbrochenen und Stuhl warten, bis man sie frisch machen konnte, da keiner so schnell Zeit hatte. Mit Begleitung wäre die Situation für sie zwar noch immer schlimm, aber viel besser durchzustehen gewesen. So musste sie zum Ende meines Dienstes noch zu einer anderen Untersuchung, um mit Kontrastmitteln nach der Blutungsquelle zu suchen. Das war nicht nur für die Patientin eine weitere Tortur, sondern machte unserem Dienst zeitlich einen noch viel größeren Strich durch die Rechnung, da ich diesen Transport mit einem der Stationsärzte begleiten musste.

Der herzchirurgische Patient wurde am Vormittag dann auf Normalstation verlegt. Der Patient selbst war sehr unzufrieden mit der Situation, da er sich darauf noch nicht richtig vorbereitet fühlte. Er war noch sehr unselbstständig und hatte nach seiner OP erst zweimal das Bett verlassen können, jeweils mit der Physiotherapie. In der Ausbildung und Fachweiterbildung habe ich SO viele Maßnahmen gelernt, diese Patientengruppe richtig zu fördern und zu begleiten. Zeit, diese anzuwenden, habe ich aber nicht. Stattdessen habe ich ihn zwischen Tür und Angel von den nicht mehr notwendigen Kabeln und Zugängen befreit, ihn nach einer kurzen Übergabe an den Transportdienst übergeben und ihm alles Gute gewünscht.

Denn eine Stunde später war ich bereits an der Reihe, einen neuen Patienten aufzunehmen.

Auch beim Patienten mit der Vakuum-Therapie treffe ich auf Unmut, als dieser am Mittag noch nüchtern ist und ich ihn weiterhin vertrösten muss, da ich einfach nicht weiß, wann er drankommt. Wie ich erfahre, ist es für ihn der dritte Tag in Folge, an dem das so läuft. Ich kann ihn verstehen, machen kann ich aber nichts. Trotzdem bleibe ich freundlich und versuche das Beste für beide draus zu machen, damit die Laune nicht kippt. Ich sage ihm, dass ich mich melde, sobald ich einen Termin weiß und verlasse das Zimmer. Doch dazu wird es in meinem Dienst nicht mehr kommen.

Vor dem CT- Transport schaue ich noch einmal schnell nach der Dame in der Sterbebegleitung. Sie liegt zwar ruhig da, atmet aber schnell und schaut mit ängstlichen Augen in Richtung der Fenster, wohin ich sie gelagert habe. Ihr Herz rast, sie scheint Stress zu haben. Vielleicht sogar Schmerzen. Also gebe ich ihr einen Bolus des Morphins über den Perfusor, welcher ihr für diese Situation verordnet wurde. Durch das Milchglas in der Tür sehe ich bereits das Bett meiner anderen Patientin, welches der Arzt schon auf den Flur schiebt, denn wir müssen jetzt schnell los.

Der Transport dauert länger, vor dem Untersuchungsraum müssen wir warten. Während der Arzt uns anmeldet und mit dem Radiologen kurz den Fall bespricht, halte ich ein Auge auf den Überwachungsmonitor, der wieder Alarm gibt, weil der Blutdruck zu niedrig ist. Das andere Auge habe ich auf meiner Patientin, die schweißgebadet und panisch zu mir aufschaut, während ich die Laufrate eines kreislaufunterstützenden Medikaments anpasse. Ich versuche während der ganzen Prozedur möglichst beruhigend auf sie zu wirken und erkläre ihr jeweils die nächsten Schritte.

Aufgrund des Befunds muss sie notfallmäßig operiert werden, sodass wir vom CT direkt zum OP fahren, sie zügig umbetten und der Anästhesie übergeben. Viel Zeit für Begleitung und Rücksichtnahme auf ihre Angst gibt es da nicht.

Zurück auf Station bemerke ich, dass mein Dienst längst vorüber ist.

In meiner Abwesenheit ist die Covid-Patientin verstorben. Allein.

Die mir zugeteilte Aufnahme hat einer meiner Kollegen angenommen und damit kurzzeitig fünf Patienten betreut.

Eine richtige Pause hat keiner von uns gemacht. Jeder hat nur schnell im Stehen was gegessen und musste dann weiter.

Meinen organisatorischen Aufgaben als Schichtleitung konnte ich heute nicht so nachkommen, wie es eigentlich mal geplant war. Auch für Fragen und Anliegen meiner neuen Kollegen hatte ich kaum Zeit, weshalb sie sich irgendwie selbst durchschlagen mussten.

An Visiten konnte ich nicht teilnehmen, um die Interessen meiner Patienten zu vertreten.

Pflegerische Tätigkeiten wie z.B. vernünftige Grundpflege, Atemtherapie, regelmäßiges Lagern, Anleitung zur Selbstständigkeit und seelische Begleitung konnten nicht durchgeführt werden. Nicht einmal zur Sterbebegleitung hatte ich

Zeit.

Obwohl ich in diesem Dienst alles gegeben habe, gehe ich mit einem schlechten Gefühl nach Hause.

Doch das liegt nicht an mir. Das liegt am System.

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