hintergründe

Ökonomische und politische Rahmenbedingungen

interview mit anja voigt

«Es braucht eine auskömmliche Finanzierung – gemeinwohlorientiert und bedarfsgerecht geplant.»

Um mehr über die Hintergründe zu Personalmangel im Krankenhaus und mögliche Auswege zu erfahren, haben wir mit Anja Voigt gesprochen. Sie ist Intensivpflegerin und Betriebsrätin im Vivantes-Klinikum in Berlin und seit Jahren politisch und gewerkschaftlich bei ver.di, im Berliner Bündnis Gesundheit statt Profite und in der Berliner Krankenhausbewegung aktiv. Ein Hauptanliegen ihrer Tätigkeit sowohl inner- als auch außerbetrieblich ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Gesundheitsbeschäftigten in unseren Krankenhäusern.

Aktuell fehlen 200.000 Pflegekräfte in der stationären Pflege, darunter allein 4.000 in der Intensivpflege.[1] Ändert sich nichts an den Bedingungen, werden bis 2035 rund 307.000 Fachkräfte in der stationären Pflege fehlen, zählt man den ambulanten Bereich noch dazu, sind es etwa 500.000.[2] Eines sollten wir dabei nicht übersehen, es fehlen schon heute nicht nur Fachkräfte in der Pflege, sondern in sehr vielen Gesundheitsberufen: Therapeut*innen, Fachkräfte für den OP, Röntgenassistent*innen und viele mehr.

Um die sehr abstrakten Zahlen etwas anschaulicher zu machen: Ich arbeite im Intensivbereich und als ich dort vor 20 Jahren begonnen habe, war die Regel, dass eine Pflegekraft für zwei Patient*innen zuständig ist. Heute ist es auf vielen Intensivstation normal, drei oder gar vier Patient*innen zu betreuen. Patient*innen, die deutlich älter sind, deutlich kränker und mit denen medizinisch viel mehr gemacht werden muss. Das heißt also, ich habe mit jeder einzelnen Person mehr zu tun und betreue gleichzeitig doppelt so viele Menschen. Welche Folgen das hat, kann man in jedem einzelnen der Erfahrungsberichte in diesem Buch lesen.

Das Hauptproblem ist das DRG-System, das 2004 eingeführt wurde. DRG steht für Diagnosis Related Groups, ein Fallpauschalensystem, das die Patient*innen nach Kosten zusammenfasst. Allgemeiner bezeichnet es die Öffnung des Gesundheitssystems zum freien Markt. Diese hat zu einer regelrechten Sparorgie an Personal, insbesondere an Pflegepersonal, geführt bei gleichzeitiger Leistungsausdehnung. Seitdem werden immer mehr, bisweilen unnötige, Therapien, Operationen und Behandlungen durchgeführt, weil sie Geld bringen. Und es werden immer mehr Patient*innen immer früher entlassen, weil es mehr Geld bringt, mehr Patient*innen in weniger Zeit zu behandeln. Gleichzeitig wird immer mehr Personal abgebaut, weil Personal Geld kostet. Seit Einführung der DRGs sind allein die Vollzeit-Pflegestellen von 350.000 im Jahr 1995 auf 345.407 im Jahr 2019 gesunken.[3] Zugleich ist die Anzahl der behandelten Patient*innen deutlich angestiegen: von knapp 16 Millionen im Jahr 1995 auf weit über 19 Millionen im Jahr 2019. Dabei haben sich die Liegezeiten drastisch verkürzt. Das heißt, kamen 1995 noch 45 Patient*innen auf eine Pflegekraft, waren es 2019 schon 57. Immer weniger Personal betreut also immer mehr Patient*innen, die immer kürzer verweilen. Das führt zu einer unglaublichen Arbeitsverdichtung.

Genau, ich spreche meistens lieber von einer Berufsflucht statt von einem Fachkräftemangel. Es gibt viele Pflegekräfte in Deutschland, die mittlerweile in einem anderen Beruf tätig sind, weil sie die Belastung im Gesundheitssystem nicht mehr ausgehalten haben. Eine Studie – unter anderem durchgeführt von der Arbeitnehmerkammer Bremen und der Hans-Böckler-Stiftung hat ergeben, dass konservativ gerechnet bis zu 300.000 Pflegekräfte in den Beruf zurückkehren oder ihre Arbeitszeit aufstocken würden, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern würden und gute Pflege wieder möglich wäre.[4]

Einfach gesagt, stellen die DRGs den Kostenaufwand für eine bestimmte Behandlung von einzelnen Patient*innen mit einer bestimmten Diagnose im Krankenhaus dar.[5]5 Das Krankenhaus bekommt für eine bestimmte Behandlung, zum Beispiel bei einer Blinddarmentzündung, eine bestimmte Summe Geld, dabei spielt es keine Rolle, wie lange der oder die Patient*in im Krankenhaus liegt. Krankenhäuser sind also bestrebt, möglichst viele Patient*innen zu betreuen, deren DRGs viel Geld bringt, zum Beispiel lukrative Operationen wie Kaiserschnitte durchzuführen, und die Patient*innen dann möglichst schnell wieder zu entlassen. Gleichzeitig werden Behandlungen, die eher wenig Geld bringen, etwa die Versorgung von Kindern oder spontane Entbindungen oder Behandlungen, bei denen mit längeren Liegezeiten zu rechnen ist, wie bei Diabetes, nicht mehr angeboten. Ein weiteres Problem ist, dass die DRGs nur die laufenden Kosten der Behandlung decken, also weder Vorhaltekosten noch Investitionskosten. Vorhaltekosten sind fixe Ausgaben, die allein durch das Bereitstellen bzw. Bereithalten der erforderlichen Betriebskapazität verursacht werden. Ein Kreißsaal wird betriebsbereit gehalten (Personal, Heizung, Licht …), auch wenn gerade keine Geburten stattfinden. Investitionskosten sind alle Ausgaben, die für Neu- oder Umbauten, Instandhaltung oder die Anschaffung von Geräten anfallen. Diese Kosten müssen aber auch «irgendwie reinkommen », denn die Bundesländer, die dafür eigentlich aufkommen müssten, tun das seit Jahren nur mehr schlecht als recht. Wozu führt das? Es wird gespart, bis es quietscht: bei der Instandhaltung, beim Material, sogar beim Essen, aber vor allem beim Personal.

Auch wenn die Übergabe unserer Krankenhäuser an den freien Markt und die Implementierung des Fallpauschalensystems sicher die Grundübel sind, wurde in den letzten Jahren aber noch viel mehr versäumt. Fehlende Personalbemessungsinstrumente, keine wertschätzende Bezahlung, die immer noch nicht vorangebrachte Akademisierung oder die «Pflege kann jeder»-Debatten haben sicher auch nicht zur Attraktivität der Pflege beigetragen.

Bei so vielen Problemen müsste sich auch sehr viel ändern und bewegen. Zwei Dinge finde ich persönlich aber besonders dringlich. Als Erstes bräuchte es eine auskömmliche Finanzierung der Krankenhäuser, die nicht der Marktlogik unterworfen, sondern gemeinwohlorientiert und bedarfsgerecht geplant ist. Zweitens braucht es dringend ein gesetzliches Personalbemessungsinstrument. Es muss endlich klar geregelt sein, unter welchen Bedingungen in unseren Krankenhäusern gearbeitet wird. Ich möchte nicht in einem Krankenhaus operiert werden, in dem ich nicht sicher sein kann, dass mehr als eine Kollegin am OP-Tisch steht, in dem ich nicht weiß, ob die Hebamme für einen oder drei Kreißsäle gleichzeitig zuständig ist, oder in dem ich Angst haben muss, dass nicht genug Zeit für ausreichende Hygienemaßnahmen vorhanden ist. Da auf Gesetzgebungsebene bisher wenig passiert ist, haben sich Kolleg*innen in verschiedenen Krankenhäusern deutschlandweit aufgemacht und tarifliche Regelungen durchgesetzt. Mit Entlastungtarifverträgen sind hier bundesweit Maßstäbe gesetzt worden. In diesen ist klar geregelt, wie die Personalbesetzung in bestimmten Bereichen aussehen muss und welche Konsequenzen es hat, wenn sie nicht realisiert wird. Die neueren dieser Verträge, wie in Berlin oder Nordrhein-Westfalen, beinhalten neben der Pflege auch Standards für weitere Berufe. (siehe für mehr Hintergründe auch bei Entlastungsbewegungen)


[1] Statista: Prognostizierter Bedarf an stationären und ambulanten Pflegekräften* in Deutschland bis zum Jahr 2035, de.statista.com, 2023, unter: de.statista.com/statistik/daten/studie/172651/umfrage/bedarf-an-pflegekraeften-2025/.
[2] Institut der deutschen Wirtschaft: Pflegenotstand – so viel Fachkräfte fehlen wirklich, iwkoeln.de, 2018, unter: www.iwkoeln.de/studien/regina-flake-susanna-kochskaemper-susanne-seyda-fachkraefteengpass-in-der-altenpflege/.
[3] Statistisches Bundesamt (Destatis): Grunddaten Krankenhäuser, Fachserie 12, Reihe 6.1.1, verschiedene Jahrgänge.
[4] Auffenberg, Jennie/Becka, Denise/Evans, Michaela/Kokott, Nico/Schleicher, Sergej/Braun, Esther: Ich pflege wieder, wenn … Potenzialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften, Ein Kooperationsprojekt der Arbeitnehmerkammer Bremen, des Instituts Arbeit und Technik Gelsenkirchen und der Arbeitskammer des Saarlandes, hrsg. von der Arbeitnehmerkammer Bremen, Bremen 2022.
[5] Krankenhaus statt Fabrik: Das Fallpauschalensystem und die Ökonomisierung der Krankenhäuser. Kritik und Alternativen, 5. Aufl., Maintal 2020, S. 23.

mehr hintergründinformationen

Broschüren und Stellungnahmen des Bündnisses Krankenhaus statt Fabrik

Auf der Internetseite von Krankenhaus statt Fabrik findet ihr umfangreiches und nützliches Hintergrundwissen zum Finanzierungssystem unseres Gesundheitssystems.

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