Sonntag Morgen, auf einer onkologischen Station. Wir waren vier Pflegekräfte, eine Servicekraft und ein Dienstarzt, die für insgesamt 44 Patientinnen und Patienten zuständig waren. Den ganzen Morgen über war es schon sehr wuselig gewesen, an Frühstück war wie immer nicht zu denken. Viele Blutentnahmen, Chemotherapien, die zeitgenau angehängt werden mußten, zwei jungen Patientinnen in hochpalliativen Situationen. Zwei Patientinnen, die in fast allen alltäglichen Aktivitäten auf Hilfe angewiesen waren. Ein männlicher Patient, der aufgrund seines Tumors des Zentralnnervensystems schon alleine eine Pflegekraft für sich alleine benötigt hätte. All diese Patient:innen befanden sich in der Gruppe von elf Patient:innen, für die ich zuständig war.
Herr K., ein 60-jähriger Patient, den wir am Vortag aus einem anderen Krankenhaus übernommen hatten, mit blutigem Auswurf und schlechten Blutwerten sowie Fieber, hatte während meines Rundgangs immer wieder geklingelt. Er war sehr unruhig und wirkte nervös.
Ich war zum Messen der Vitalzeichen während meiner Morgenrunde bei ihm gewesen, hatte ihm Blut abgenommen und ihm ein Antibiotikum verabreicht. Wir hatten ein paar Sätze gewechselt, die Vitalzeichen waren unauffällig, das Fieber gesunken. Ich merkte, dass er mich nicht gehen lassen wollte. Er erzählte von seiner Familie und seinen Sorgen und irgendwann sagte ich ihm, dass ich weiter müsse. Er hatte mich mit großen Augen angeschaut, geschwiegen und mich weiterziehen lassen.
Während der folgenden Stunde klingelte er immer wieder und irgendwann wurde ich ungeduldig und sagte ihm, er müsse wirklich damit aufhören, ich würde später, sobald es mir möglich sei, wieder nach ihm sehen und mir Zeit für ihn nehmen.
Nachdem ich noch schnell zwei Chemotherapie angehängt und in einem anderen Zimmer einem Morphin Perfusor gewechselt hatte und eben kurz nach der einen palliativen Patientin geschaut hatte, entschied ich mich zu einer Patientin zu gehen, die im Bad Hilfe benötigte und die ich außerdem, wegen zunehmender Ödeme, noch auf die Waage begleiten musste. Als ich der Patientin half sich an die Bettkante zu mobilisieren, klingelte Herr K. erneut. Ich atmete einmal tief durch und überlegte, ob ich sein Klingeln ignorieren sollte, um erst einmal der Patientin ins Bad zu helfen, entschied mich aber zum Glück dagegen. Ich vertröstete die ältere Dame und versprach ihr gleich wieder bei ihr zu sein.
Ich lief ins Zimmer von Herrn K. zurück. Ich wollte gerade ausholen und ihm klar machen, dass ich wirklich viel zu tun hatte, da sah ich, dass er mit weit geöffneten Augen, den Blick zur Zimmerdecke gerichtet, das Gesicht mit Schweißperlen bedeckt, der Körper reglos und ohne Atmung, in seinem Bett liegen. Er war klinisch tot. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Ich hatte mich zum Glück richtig entschieden. Ich möchte mir bis heute nicht vorstellen, wie diese Geschichte ausgegangen wäre, hätte ich mich erst noch um die andere Patientin gekümmert, wäre ich erst noch mit ihr zur Waage und dann ins Bad gelaufen. Oder hätte Herr K. an diesem Morgen nicht noch einmal die Klingel gedrückt, dann nämlich wäre ich sicher erst zwei oder drei Stunden später wieder in sein Zimmer gekommen. Zu einem Patienten, dem wir nicht mehr hätten helfen hätten können. Wir reanimierten Herrn K. erfolgreich, er lag nur drei Nächte auf Intensivstation und kam mit einem Herzschrittmacher zurück zu uns auf Station. Nach 14 Tagen konnte er nach Hause entlassen werden.