Über Zwei Etagen Alleine

Ich arbeite in einer Chirurgischen Notaufnahme. Nach einem Umbau sind wir vor über 1,5 Jahren ins modern ausgebaute Erdgeschoss gezogen. Dort betreuen wir alle Notfall-Patienten die sich fußläufig oder mit dem Rettungswagen vorstellen. Unser Schockraum, den wir mit 2 Plätzen parallel ‚fahren’ können ist jedoch im ersten Stockwerk geblieben, aufgrund der Nähe zum CT.

Nachts war ich, wie immer, alleine. Das sei auf regelmäßiger Nachfrage bei der Leitung so vorgesehen. Wir hatten uns schon häufig beschwert, da das bedeutete, dass wir regelmäßig Nachts Patienten allein im Erdgeschoss lassen mussten, wenn sich ein Schockraum ankündigte. So kam es vor dass Patienten von ihren Tragen aufstanden und fielen, ohne dass jemand auf ihre Rufe reagieren konnte, oder dass betrunkene Patienten ohne Einhalt randalierten, oder dass Alarme von monitorpflichtigen Patienten nicht gehört werden könnten – die einzige andere Person im Erdgeschoss weit und breit ist der Pförtner. Keine dieser Situationen führte dazu, dass wir zu zweit Nachtdienst machen sollten – es hieß immer, das Problem sei bekannt, es gäbe halt kein Personal.

In dieser Nacht war es ruhig und als sich gegen 5 Uhr ein Junger Mann mit starken Beschwerden selbstständig bei mir vorstellte, war er mein einziger Patient. Er hatte vor wenigen Monaten eine neue Niere erhalten und hatte nun hohes Fieber, Schüttelfrost und hatte sich mehrfach übergeben. Er machte sich große Sorgen um das Organ. Ich schloss ihn umgehend an den Monitor, er atmete sehr schnell und hatte einen sehr niedrigen Blutdruck. Er hatte eine Sepsis. Als ich ihm Blut abnehmen wollte, klingelte das Telefon und ich wurde darüber informiert, dass in 3 Minuten ein Schockraum käme, jemand hatte einen Verkehrsunfall gehabt. Laut Verfahrensanweisung sollen Schockräume von 2 PPs wie mir betreut werden, eine Person arbeitet am Patienten und der andere kümmert sich um die Administration. Ich war, wie jede Nacht, allein. Meine Schockraumtätigkeiten konnte ich nicht delegieren, da die beteiligten Partien nicht in meine Tätigkeiten nicht eingearbeitet sind. Meinen Patienten im Erdgeschoss musste ich also über eine Stunde lang alleine lassen, da der Schockraumpatient schwer verletzt war. Eine Stunde in der ich immer wieder ins Erdgeschoss rannte, um auf den Monitor zu schauen, und ihm zu versichern, dass ich bald wiederkommen würde. Auch die Ärzte hatten keine Kapazitäten ihn zu überwachen oder zu behandeln, da sie im Schockraum gebraucht wurden. Das Gefühl, mich zweiteilen zu müssen, und dass, wenn ich es nicht täte, jemand ersthaften Schaden nehmen könnte, ist das schlimmste Gefühl, das ich kenne.

Der junge Mann im Erdgeschoss hat nicht nur keine Medikamente gegen sein Unwohlsein erhalten, sondern auch keine Blutentnahme und daher auch keine Antibiotika, was seine weitere Chance, bei dem Krankheitsbild der Sepsis zu versterben um über 8% gesteigert hatte.

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