Sturz ins Leben

Ich war im ersten Lehrjahr meiner Hebammenausbildung. Als ich im Frühdienst meinen Dienst begann, kam mir bereits eine gehetzte Hebamme entgegen. Sie alleine hatte in der Nacht fünf Frauen betreut, die auch alle in dieser besagten Nacht ihre Kinder bekommen haben. Nach Übergabe des Dienstes sagte meine mir zugeteilte Lehrhebamme, dass ich doch mal schnell auf das Neugeborene im Kreißsaal 1 schauen sollte. Das Neugeborene wäre um 3 Uhr nachts geboren worden und seitdem hätte die Hebamme aus dem Nachtdienst keine Zeit mehr gehabt, auf das Neugeborene zu schauen.

Ich ging in diesen Kreißsaal und schaute nach dem Neugeborenen. Dann sah ich, dass das Kind gräulich aussah und lethargisch. Der Muskeltonus war vermindert und mir war sofort klar, dass es diesem Neugeborenen nicht gut geht. Ich nahm das Kind mit raus und traf im Flur auf eine junge Assistenzärztin, die auch sofort sah, dass es dem Kind nicht gut geht. Sie rief die Kinderärzte an, diese versorgten das Kind. Es stellte sich heraus, dass das Kind einen Blutzucker von 13mg/dl hatte. Der Mindestwert eines Neugeborenen sollte 45mg/dl nicht unterschreiten, denn dann wird das Kind behandlungsbedürftig. Eine Unterzuckerung bei einem Neugeborenen führt zur Reduzierung der Körperfunktionen (Anpassungsprobleme, Instabilität der Körpertemperatur) und greift schnell das Gehirn des Neugeborenen an. Im schlimmsten Fall kommt es zu irreversiblen Gehirnschäden. Das Kind wurde auf die Intensivstation verlegt. Wie es dem Kind im Verlauf ging, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur noch, dass sich die Eltern bei uns bedankten, da sie der Meinung waren, wir hätten ihr Kind gerettet. Dass die ersten Symptome einer Unterzuckerung leicht zu erkennen sind (Tremor, Reduzierung der Körpertemperatur, gräuliche Hautfarbe) und dementsprechend auch leicht behebbar sind, habe ich den Eltern an dieser Stelle nicht mitgeteilt. Hätte die Hebamme das Neugeborene engmaschig beobachten können, was zu den Aufgaben einer Hebamme gehört, wäre das Kind niemals in diesen Zustand gekommen.

Als ich dann fertig ausgebildete Hebamme war, gingen diese Erfahrungen leider weiter. Ich kann mich an einen Nachtdienst erinnern, in dem ich als Hebamme fünf Frauen betreut habe, davon drei aktiv unter der Geburt. Ich war alleine für fünf Frauen und fünf Kinder verantwortlich. Ich habe teilweise gar nicht mitbekommen, wer neu im Kreißsaal aufgenommen wurde (die Ärztin musste öfter an die Kreißsaaltür), da ich recht intensiv eine Erstgebärende betreute. Die diensthabende Ärztin hatte den Kreißsaal zwar abgemeldet, aber die Feuerwehr brachte dennoch zwei Frauen mit der Aussage: „Ja, auch die anderen Kreißsäle sind gesperrt.” Plötzlich hörte ich die diensthabende Ärztin meinen Namen schreien und obwohl die Erstgebärende bereits kurz vor der Entbindung war – das Köpfchen war bereits zu sehen – ging ich in den Kreißsaal, aus dem der Schrei kam. Ich sah eine Frau am Kreißsaalbett stehend, ein Neugeborenes auf dem Boden liegend und eine abgerissene Nabelschnur. Die Ärztin versuchte, die Frau ins Bett zu legen. Ich nahm das Kind, es war vital und schrie, legte es der Mutter schnell auf die Brust, klemmte die Nabelschnur ab und sagte nur schnell zur Ärztin: Denk an die warmen Handtücher für das Kind, ich muss zurück zu der anderen Frau.” Dieses andere Kind kam wenig später zur Welt. Das Kind, welches auf dem Boden gestürzt war, musste von den Kinderärzt:innen zur Beobachtung in ein anderes Krankenhaus verlegt werden. Ein Kind stürzt auf den Boden, weil niemand da ist.

Die andere Frau, kurz vor der Entbindung, wird alleine gelassen, ganz zu schweigen von den anderen Frauen, die ich leider aufgrund des Personalmangels kaum betreuen konnte. Die Frauen vertrauen sich uns an, sind der Überzeugung, wir können uns um sie kümmern, sie betreuen.

Ich möchte an dieser Stelle deutlich betonen, dass die jetzige Verschriftlichung dieses Nachtdienstes nicht annähernd wiederspiegelt, welchen psychischen und körperlichen Belastungen ich ausgesetzt war, ganz zu schweigen, wie gefährdet die Frauen und die Kinder in dieser Nacht waren. Es gibt unzählige Fallbeispiele, in denen es akut zur Patient:innengefährdung kommt – einfach nur, weil nicht genügend Hebammen eingesetzt sind.

Ich weiß von einer Kollegin, dass es unter ihrer Betreuung zu einer Totgeburt kam. Und das nur, weil die Hebamme keine Zeit hatte auf das CTG zu schauen und zu bemerken, dass die kindlichen Herztöne schwächer wurden.

Ich kann von mehreren Fällen berichten, wo Hebammenschülerinnen alleine mit der Gebärenden ihr Kind bekommen haben. In einem Fall ging es dem Kind so schlecht, dass es reanimationspflichtig wurde. Die Schülerin hat glücklicherweise schnell reagiert, das Kind schnell abgenabelt und auf die Rea gebracht.

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