Ich – sowie viele andere – bin der Meinung, dass ich den schönsten Job der Welt habe. Nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung. Eine perfekte Fusion aus Handwerk, Wissenschaft und Herzarbeit.
Ich bin Hebamme und darf jeden Tag Geburtstag feiern. Doch heute Nacht bin ich nur gerannt. Acht Stunden lang. Sieben Frauen wollten auf dem Weg zum Mutter werden begleitet werden und wurden von mir und meiner Kollegin in unserer Eile mitgerissen. „Ich muss leider nochmal schnell zur Klingel / ans Telefon / zu einer anderen Geburt, es tut mir leid. Ich bin gleich wieder da“. Wohl wissend, dass es ein Wunder wäre, sollte ich gleich wieder da sein. Acht Stunden trinke ich nichts, immerhin muss ich dann nicht auf die Toilette. Praktisch, wenn dafür eh keine Zeit ist. Mit „Leider ist gerade kein Kreißsaal frei“, muss ich eine wehende Frau vertrösten. Ihr Mann ist sichtlich besorgt. Sie ist erschöpft und möchte sich hinlegen. Doch das geht nicht, denn der letzte verbliebene intime Ort ist die verwaiste Personaltoilette. In zwei Kreißsälen liegen frischgebackene Mütter mit ihren Neugeborenen – erschöpft, glücklich und hungrig. Wir haben keine Zeit sie auf die Wöchnerinnenstation zu verlegen, also gibt es Zwieback und Tee.
Drei Neugeborene brauchen nach der Geburt besonders viel Aufmerksamkeit durch uns und die Ärztinnen. Ihre Mütter müssen wir in ihrer Sorge alleine lassen. Es schmerzt so sehr, die Gebärenden und ihre Partner gegen ihren Willen allein zu lassen. Am Schwersten fällt es mir bei einer Frau – sie musste ihre in der Schwangerschaft verstorbene Tochter heute fast allein zur Welt bringen. Ich versuchte für sie da zu sein, in einem Moment voller Verletzlichkeit – eine Situation, die mir als Hebamme näher geht als andere Geburten. Wir messen und wiegen das Kind. 269 Gramm 31 cm, zart und leblos liegt es in meinen Händen. Im Nachbarraum schreit sich ein Säugling die Seele aus dem Leib: er ist hungrig und seine Mutter noch etwas unbeholfen beim ersten Stillen. 3240 Gramm, 52 cm. Mit schnellen Griffen habe ich ihn an ihre Brust gelegt bevor ich wieder gehe. Das nächste Mal wird sie genauso ratlos sein wie eben. Keine Begleitung, sondern Bevormundung.
Sieben Frauen müssen sich zwei Hebammen teilen. Sie bräuchten einen Fels in der Brandung, eine weise Frau, die sie auffängt und ihre Kräfte beflügelt. Nur meine Schuhe haben heute Flügel. Blut, Schweiß und Fruchtwasser und alles auf meinen Klamotten. Ich habe keine Zeit mich umzuziehen und wasche mit notdürftig das Blut von meinen Armen bevor ich zur Klingel gehe.
Nach Dienstübergabe noch zwei Stunden die ganze Nacht dokumentieren. „Wegen maximaler Auslastung des Personals konnte keine adäquate Betreuung gewährleistet werden“, steht in allen meinen Berichten. Wegen maximaler Ausnutzung des Personals kann ich nicht mehr. „Wir haben zusammen die Nacht überlebt“, sagt meine Kollegin. Jobgoal – Überleben.
Ich wollte eine von den weisen Frauen sein, die Schmerz und Angst mit Worten besiegen können. Die ihr Handwerk verstehen, empathisch sind und unverzichtbar für den Beginn eines jeden Menschenlebens. Eine, die Gebärenden ihre Ressourcen vor Augen hält, sie ihre Kraft finden lässt und Ehrfurcht vor dem Leben hat.
Jede der sieben Frauen hätte so jemanden verdient gehabt. Stattdessen haben sie heute nur einen Bruchteil von dem erhalten können, was ihnen zusteht. Sieben Mal Geburtstag statt mit „Wie schön, dass du geboren bist“ mit „Bin gleich wieder da“.
Was bleibt ist eine große Leere in mir, die die angestaute Wut, Verzweiflung und Angst auffrisst. In dieser Leere komme ich zur Ruhe, kann den Rausch dieses Horrortrips ausschlafen. Und wenn ich aufwache, mache ich weiter.