Zu viel für eine Person
aus Berlin
Es ist ca. 1 Uhr nachts, ich arbeite in einem Berliner Klinikum und bin alleine für alle Röntgen- und Computertomograph (CT)-Notfall-Patient:innen der Rettungstelle, der Intensivstationen und der Normalstationen zuständig. Ich arbeite bereits seit 2 Stunden ununterbrochen am CT und habe immernoch fünf Patient:innen auf der Liste, die ein Schädel-CT benötigen. Bei den meisten davon ist die Fragestellung Hirnblutung nach Sturz. Ein Patient hat Schlaganfall-ähnliche Symtome. Gleichzeitig warten auch schon drei Patient:innen auf eine Röntgen-Untersuchungen. Ich entscheide mich zuerst die Computertomograph-Patient:innen zu untersuchen, denn Verzögerungen bei Hirnblutungen oder Schlaganfall können zu lebensbedrohlichen Situationen für die Patient:innen führen. Zu diesem Zeitpunkt ruft mich ein Oberarzt einer Intensivstation an und sagt mir, er hätte gerade drei Covid-Patient:innen zum Lunge röntgen auf der Intensivstation angemeldet, die sich akut verschlechtert hätten. Ich stöhne innerlich auf. Gleich drei. Ich weiß, dass ich dafür mindestens 40 Minuten weg sein werde von der Rettungsstelle, denn Covid-Patient:innen röntgen dauert einfach länger. Schutzkleidung anlegen sowie danach eine gründliche Desinfektion meines Gerätes. Ich erkläre der Oberärztin, dass ich in der Rettungsstelle noch dringend ein paar CTs machen müsse, dann aber so schnell wie möglich kommen würde. Ich versuche also weiterhin die CT-Patient:innen "abzuarbeiten", muss mir dafür ständig jemanden aus der Pflege suchen, der mir hilft, die meist alten, teilweise dementen oder auch betrunkenen Patient:innen auf den CT-Tisch zu ziehen. Nebenbei bemerkt: Wahrscheinlich ist gar nicht genug bekannt, dass man als Medizinisch-Technische Radiologie Assistentin (MTRA) im Krankenhaus täglich und permanent körperliche Höchstleistungen vollbringen muss, da viele der Patient:innen es nicht mehr schaffen, sich selbständig zu bewegen und sich auf unsere Untersuchungstische zu legen, wir aber immer allein am Gerät sind. So brauche ich auch in dieser Nacht oft Hilfe beim Umlagern der Patient:innen, vor und nach der Untersuchung. Häufig ist der Kollege der Pflege aber gerade selbst an einer Patientin beschäftigt, manchmal "rettet" mich dann eine ärztliche Kollegin und hilft mir beim Umlagern.
Seit Längerem höre ich in der Nähe ein kleines Kind, welches die ganze
Rettungsstelle zusammenschreit und sehe in meiner Auftragsliste, dass es
auf ein Röntgen vom Ellenbogen wartet. Mist! Außerdem sind inzwischen
noch mehr Patient:innen zum Röntgen angemeldet. Ich weiß, die müssen
warten. Leider, aber die anderen Patient:innen sind dringlicher. Es ist
inzwischen 2 Uhr und erneut ruft mich die Intensivstations-Oberärztin
an, um mich an die drei Corona- Patient:innen zu erinnern. Zerknirscht
sage ich: „Ja, ich komme demnächst, bin beim letzten CT, würde aber
gerne vorher auch schnell noch das schreiende Kind röntgen, welches wohl
große Schmerzen zu haben scheint. Sie ist einverstanden und ich denke,
hoffentlich dauert das nicht wieder so lange. Kleine Kinder mit Angst
und Schmerzen sind häufig sehr aufwendig zu röntgen. Man braucht viel
Geduld und Einfühlungsvermögen, um verwertbare Aufnahmen hinzubekommen.
In diesem Moment klingelt mein Diensthandy erneut und eine Ärztin der
Frühchen-Intensiv-Station sagt mir, sie bräuchten ein Lungen-Bild von
einem Frühchen. Jetzt bin ich schon langsam den Tränen nahe. Auch dafür
muss ich die Rettungsstelle verlassen, denn diese Intensivstation
befindet sich ziemlich dezentral, am anderen Ende des
Krankenhaus-Traktes und ich werde für dieses Röntgenbild mindestens 20
Minuten brauchen. In meinem Kopf rattert es, weil ich überlege, welche
Patient:innen ich denn jetzt priorisieren soll? Ich frage die Ärztin
nach der Dringlichkeit, erkläre, dass auch 3 Corona-Patient:innen schon
eine Weile auf mich warten würden. Sie sagt, es wäre schon recht
dringlich, sie ist aber auch relativ verständnisvoll und sagt, ich solle
dann so schnell es geht kommen. Ich röntge dann so schnell wie möglich
das laut schreiende Kind, denn diese Geräuschkulisse zehrt zusätzlich an
den Nerven des gesamten Rettungsstellen-Personals.
Dann wird ein Koma-Patient in die RST eingeliefert, bei dem ich sofort
eine Computertomographie machen muss. Inzwischen ist es 3 Uhr und ich
bekomme einen Anruf von einem Urologen, der mir sagt, er bräuchte für
einen seiner Patient:innen mit akuter Luftnot dringend ein CT wegen des
Verdachtes auf Lungenembolie. Ich weiß, auch bei diesem Befund besteht
Lebensgefahr. Ich erkläre ihm kurz die Situation mit meinen anderen
Notfällen und sage ihm, ich bestelle den Patienten so schnell ich kann.
Er hat zum Glück Verständnis.
Dann klingelt schon wieder mein Diensthandy, es ist zum dritten Mal die
Oberärztin der Intensivstation dran und fordert mich unmissverständlich
auf, dass ich JETZT zu kommen habe. Ja, muss ich auch, ich habe ja
sowieso schon die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen. Ich habe Angst,
dass ich Schuld daran sein könnte, wenn man den Corona- Patient:innen
letztlich nicht mehr helfen würde können. Ich will gerade zur
Intensivstation loslaufen, da kommt ein Kollege vom
Patient:innenbegleitservice und stellt mir ein Bett vor dem CT ab. Es
ist der Patient von der urologischen Station. Ich bin fassungslos und
sehe dann auch gleich den Urologen. Ich beschwere mich aufgeregt, warum
der Patient denn scheinbar schon losgeschickt wurde, bevor wir
telefoniert hätten. Ich informiere diesen Arzt, dass ich jetzt leider
erstmal zur Intensivstation muss und auch eine Weile brauchen werden und
dass er jetzt für die Überwachung seines Patienten in der Rettungsstelle
zuständig ist. Dann röntge ich endlich die 3 Corona- Patient:innen. Die
Oberärztin kommt anschließend noch zu mir und formuliert fast so etwas
wie eine Entschuldigung, wegen des Druckes, den sie mir gemacht hätte,
den Patient:innen ginge es wirklich schlecht und dann fragt sie mich:
"Sie sind ja nachts alleine, ne?" „Ja!”
Ich entschuldige mich im Gegenzug auch, dass ich nicht früher kommen
konnte.
Danach mache ich das CT von dem urologischen Patienten. Zwischendurch
ruft mich nach 2 Stunden auch wieder die Ärztin der Frühchen-Station an
und ich entschuldige mich mal wieder und sage, dass ich in der nächsten
halben Stunde komme. Und ich "bete", dass vorher nicht noch ein
schwerer Unfall oder ein Schlaganfall reinkommt, denn das kann ja auch
jederzeit passieren. Sehr ungünstig auch, wenn das passiert, während ich
gerade, ziemlich weit weg, bei den Frühchen bin. Diesmal geht es aber
gut. Keine Notfälle – Notfälle, auf die unser Haus in jeder Zeit
vorbereitet sein muss.
Ich denke die ganze Zeit an die armen Röntgen-Patient:innen, von denen einige mittlerweile bereits fünf Stunden auf mich warten müssen. Patient:innen mit Luftnot und solche mit dem Verdacht auf Frakturen. Am Ende der Nacht bin ich fix und fertig.
Der Frühdienst, der zum Glück überpünktlich kommt, nimmt mir noch die letzten Röntgen- Patient:innen ab, denn ich bin als Nachtdienst auch noch dafür verantwortlich unsere beiden CT-Geräte neu zu starten und die Kontrastmittel-Injektoren zu putzen und neu zu bestücken, also in Betrieb zu nehmen. Das muss einmal in 24 Stunden gemacht werden und natürlich soll der Frühdienst pünktlich um 7 Uhr die erste Patientin auf den Untersuchungstisch legen können. Für deren Bestellung bin ich auch noch verantwortlich.
Mehr als einmal war mir in dieser Nacht zum heulen zumute. Eigentlich
liebe ich meinen Beruf sehr, er ist wirklich abwechslungsreich und man
hat viel Verantwortung. Ich arbeite seit über 30 Jahren in meinem
Krankenhaus, meistens sehr gern, aber unter diesen Bedingungen werde ich
es weder körperlich, noch psychisch lange schaffen können. Der Druck,
falsche Entscheidungen bei der Reihenfolge zu treffen (eine nicht
unerhebliche Entscheidung, wenn es um Leben und Tod geht), das permanent
schlechte Gewissen, den Patient:innen gegegenüber, die einfach nur Hilfe
brauchen, dieses Gefühl kennen alle in der Radiologie. Wir fordern
endlich wieder eine zweite Kollegin im Nachtdienst: Es fehlt aber in
allen Schichten und Abteilungen an MTRAs, um gefährlich lange
Wartezeiten und somit Patient:innen-Wohlgefährdung vermeiden zu können.
Auch die Radiologie eines Krankenhauses ist wichtig, liebe
Geschäftsführung. Wir helfen mit unserer Diagnostik oft aktiv Leben zu
retten oder sind der erste Schritt, um bei den Patient:innen die
geeignete Therapie einzuleiten. Wären Sie, die Geschäftsführung eine:r
meine:r Patient:innen gewesen? Oder eine:r ihrer Angehörigen? Halten Sie
die Worte "dass wir in der Radiologie ja auch nur unsere Geräte
bewachen" immer noch für angebracht? Respekt und Wertschätzung den
Beschäftigten der Radiologie gegenüber sieht anders aus. Unsere
Arbeitsbedingungen müssen sich schleunigst ändern.